Mi., 13.04.2022 - 16:30

Anlässlich des Weltflüchtlingstages im Juni 2021 haben wir eine neue Artikelserie gestartet: " Flüchtlingsportraits". Mit diesen Artikeln wollen wir Flüchtlingen eine Stimme geben, damit sie uns von ihren Erfahrungen, ihrer Reise und ihrer Beziehung zur Schweiz erzählen können. Für den vierten Artikel unserer Serie haben wir Awadil* getroffen, der vor 28 Jahren aus Pakistan fliehen musste, wo sein Leben in Gefahr war. Er bekam in der Schweiz Asyl, wo er heute als Sozialarbeiter anderen Flüchtlingen und Asylsuchenden hilft, mit deren neuer Realität zurechtzukommen. Wir haben ihn ein paar Fragen gestellt über seine Erfahrungen. 
 
*Aus sicherheitsgründen wurde der Name geändert. Während Awadil sich um seine Sicherheit in der Schweiz nicht fürchtet, will er vermeiden dass dieses Interview seinen Verwandten und seiner Familie in Pakistan Probleme bringt.  

Portraits de réfugiés: Awadil
Awadil, erzählen Sie uns von Ihnen. 

Ich bin in einer mittelständigen Familie in Pakistan aufgewachsen. Während meiner Kindheit konnte ich sehen, unter welchen Bedingungen unsere Leute und insbesondere Kinder leben mussten. Dabei erlebte ich die Zwiespältigkeit unserer Gesellschaft, in der Kinder aus reicheren Familien zur Schule gehen konnten, während die ärmeren Kinder für ihre Familien arbeiten mussten. Das warf bei mir immer wieder die Frage auf warum ich zur Schule gehen durfte und die Kinder, die abends mit mir spielten, am nächsten Tag zur Arbeit mussten. Auch später habe ich mit meinen Bekannten immer wieder über diese Frage diskutiert.  

Nach Abschluss meines Anwaltsstudiums stieg ich den Anwaltsberuf ein, wo ich zusammen mit jungen Kollegen innerhalb unserer Organisation verschiedene Rechtsberatungs- und Ausbildungsprojekte für Strassenkinder lanciert habe. Insbesondere waren wir sehr aktiv im Bereich der Frauen- und Kinderrechte und gegen die Sklaverei. Hierfür leiteten wir viele Untersuchungen und führten zahlreiche Kampagnen durch, um viele Familien durch Gerichtsverhandlungen von der Sklaverei zu befreien. Mit unseren wachsenden Aktivitäten haben wir dann auch mit Kampagnen gegen den Einfluss durch die Politik und die reichen Schichten begonnen. Wir fanden auch viel darüber heraus, wie die Lager und privaten Gefängnisse funktionieren und wie die reichen Leute diese Familien ausbeuteten. Dagegen haben wir immer gekämpft. Mit der Zeit stieg der Druck auf uns und wir kriegten Schwierigkeiten, bis ich letztlich das Land verlassen musste, weil es für mich zu gefährlich geworden war. Es blieb mir keine andere Wahl. Ich landete in der Schweiz, wo ich mein neues Leben und die Integration in der Gesellschaft begann. 

Erzählen Sie uns von Ihrer Flucht in die Schweiz. 

Die Reise an und für sich war kein Problem für mich. Ich war an das Reisen von meinen Besuchen an Seminaren und Konferenzen als Anwalt gewohnt. Doch als ich mein Land verliess hatte ich nur ein Visum für die Schweiz. Wenn du dein Land mit dem Gedanken verlässt, dass du für ungewisse Zeit gehst und in der Ungewissheit über deine Zukunft und ohne Kontakte in einem Land ankommst, wo du nicht genau weisst wie weiter, dann ist das emotional schon sehr belastend. In dieser Situation habe ich schon stark leiden müssen. 

Was war Ihr erster Eindruck von der Schweiz? 

Wenn man hier ankommt, lässt man alles in seinem Heimatland zurück, auch die Qualifikationen und die Karriere. Wenn man sich hier integrieren will, muss man alles von Neuem beginnen. Als ich hier ankam, musste ich zunächst meine psychischen und gesundheitlichen Sorgen überwinden, da ich alles verloren hatte und hier bei null neuanfangen musste. Zudem musste ich den ganzen Prozess rund um meinen Status als Flüchtling durchmachen. Dann steht man plötzlich einer neuen Kultur, einer neuen Sprache, neuen Gedanken gegenüber. Man ist isoliert, erlebt Flashbacks und wird von Ängsten geplagt. Ich stand vor einem neuen Leben, einem neuen Kampf. Meine Qualifikationen waren nicht anerkannt und ich war gezwungen etwas ganz Neues zu beginnen. Ich wollte mich hier integrieren, aber da meine Ausbildung nicht anerkannt wurde, musste ich viel Neues lernen und weiterkämpfen. Ich musste auch schlechter bezahlte Arbeit verrichten, aber ich wurde dann glücklicherweise zur Universität zugelassen und konnte mein Studium mit dem Bachelor als Sozialarbeiter abschliessen.  

Nach vielen Jahren konnte ich sagen, das Ziel erreicht zu haben, aber am Anfang war es sehr schwierig, mich hier zurechtzufinden. Ich war mit vielen verschiedenen Haltungen konfrontiert, sowohl positive wie negative. Am Arbeitsplatz traf ich viele sehr freundliche und sympathische Leute an, aber musste auch viele rassistische Erlebnisse durchmachen. Ich wurde sowohl beschimpft als auch gelobt. Ich erhielt viel Unterstützung, wurde aber auch immer wieder diskriminiert. 

Nach 28 Jahren, was ist heute Ihr Eindruck von der Schweiz ? 

Es ist nach wie vor sehr ähnlich. Je nachdem mit wem du es zu tun hast, sind die Reaktionen sehr unterschiedlich. Die Vorurteile sind nach wie vor gross, und die Diskriminierung hat sich teilweise sogar verstärkt. Gleichzeitig sehe ich aber auch viele sehr positive Aspekte. Wenn aber irgendetwas passiert mit einer Person, kann es vorkommen, dass ganze Gruppen von Ausländern in den gleichen Topf geworfen werden. 

Sie sind heute Sozialarbeiter für die Stadt Winterthur. Können Sie uns ein wenig mehr über Ihre Arbeit erzählen und was sie Ihnen bedeutet ? 

Meine Tätigkeit befasst sich mit Leuten mit Migrationshintergrund, Flüchtlinge, Asylsuchende, aber auch abgewiesene Asylsuchende oder Sans-Papiers. Wir befolgen verschiedene Regeln, Verordnungen für Asylsuchende oder Sozialhilfegesetze je nach Status der Personen. Im Spezifischen sorge ich mich für meine Klienten je nach Status um ihren Unterhalt, sowie Unterkunft und Ernährung, um ihre Grundbedürfnisse abzudecken. Wenn die Familien Kinder haben, kümmere ich mich auch um ihre Einschulung, was in der Schweiz wunderbar ist, weil alle Kinder die gleichen Rechte haben. Die Grundschulausbildung und die gesundheitliche Abdeckung sind hier gewährleistet, zudem organisiere ich auch die finanzielle Unterstützung aller Klienten. 

Mit den Leuten, die den Status des Flüchtlings oder provisorisch Aufgenommenen haben, muss ich Zielsetzungen für ihre Integration in den Arbeitsmarkt festlegen. Diesbezüglich werden je nach Hintergrund und Erfahrungsstand auch Deutschkurse sowie Aus- und Weiterbildungen angeboten. Unser Ziel ist immer dann erreicht, wenn jemand den Sprung in den Arbeitsmarkt vollziehen kann und sich auch sozial zu integrieren vermag. Für Asylsuchende und abgewiesene Asylsuchende sind uns vom Gesetz die Hände leider ein wenig gebunden. Für diese Leute dürfen wir uns nur um ihre Grundbedürfnisse sowie den Unterhalt und die Ernährung kümmern. Ich stehe auch in Verbindung mit Schulen, Ärzten, Versicherungen und Integrationsprojekten, die uns in diesen Bereichen unterstützen. 

Wie werden Ihrer Meinung nach Flüchtlinge in der Schweiz wahrgenommen ? 

In jeder Gesellschaft wird neben dem individuellen Empfinden auch eine kollektive Meinung vertreten. Sehr oft wird diese gesellschaftliche Auffassung durch die Medien beeinflusst. Eine Gesellschaft wird charakterisiert durch eine Vielzahl an Individuen, die allesamt eine unterschiedliche Wahrnehmung der Flüchtlinge und Migranten haben können. Es gibt auch manchmal Ereignisse, die negative Auswirkungen haben können. Es kann zu Streitigkeiten mit Nachbarn kommen, oft auch aufgrund von Vorurteilen. Es gibt aber auch sehr viele Leute, die sehr gerne helfen wollen, wie gerade jetzt mit der Krise in der Ukraine, wo wir sehr viele Angebote von Privaten zur Aufnahme von Flüchtlingen erhalten. Viele engagieren sich aber auch zugunsten von Migranten aus anderen Krisengebieten. Ich treffe beide Phänomene an.  

Bei uns gibt es viele alte und jüngere Frauen, alleinstehende Mütter mit Kindern, auch einzelne Personen – sehr viele traurige Geschichten. Viele sind nicht in der Lage, mit Ihrem Schicksal sofort klarzukommen. Jede Person mit Flüchtlingshintergrund leidet sehr viel, das möchte ich unterstreichen. Flüchten ist nicht ein Hobby ! Es ist der letzte Ausweg. Viele leiden an den Erinnerungen der in ihrer Heimat erlebten traumatischen Situationen. Viele kriegen Angst, sobald sie Leute in Uniformen sehen. Andere fangen an zu zittern, wenn sie Ketchup-rote Farbe sehen, weil diese möglicherweise Erinnerungen wachruft. Für viele ist es schwierig, sich mit solcher psychischen Belastung auf die Integration zu fokussieren. Es ist ein langwieriger Prozess und sie brauchen Zeit, um sich zu stabilisieren. Ich bin sehr froh, in diesem Bereich tätig sein zu dürfen. Es ermöglicht mir, Kontakte zu Einheimischen zu pflegen, mit Freiwilligen zu arbeiten und miteinander Projekte zu fördern. Ich treffe sehr viele sympathische und empathische Personen an, die sich sehr aktiv für Menschen einsetzen und ihr Leben für andere, für die Umwelt und die Natur leben. 

Wenn Sie der Schweizer Bevölkerung eine Botschaft geben könnten, was würden Sie ihnen sagen ? 

Stellen Sie sich vor, Sie müssten Ihr Land verlassen. Was würden Sie in Ihrem Gastland erwarten? Es ist einfach Empathie. Meine Botschaft ist, dass Empathie sehr wichtig ist und dass man Menschen mit Migrationshintergrund oder Flüchtlingen positiv entgegentreten sollte. Diese Leute haben vielleicht sehr traurige Geschichten hinter sich. Geben Sie diesen Leuten Zeit, versuchen Sie sie zu unterstützen. Andere Kulturen haben auch ihre Werte und Gültigkeit.  

Gibt es etwas, was wir Sie hätten fragen sollen ? 

Mensch, Natur und Umwelt sind sehr wichtig. Wir müssen mit uns selbst beginnen und etwas Gutes für uns Menschen tun. Das fängt bereits dann an, wenn man unterwegs jemanden grüsst oder im Bus einer älteren Dame seinen Sitzplatz anbietet, wenn man mit der Familie und den Nachbarn gut auskommt und positiv denkt und handelt. Das sollten Menschen tun.