Di., 08.03.2022 - 12:30

Heute ist der internationale Frauentag. In Zusammenarbeit mit dem Corriere del Ticino, haben wir uns entschlossen, diesen Tag zu begehen, indem wir nicht nur über die Herausforderungen sprechen, mit denen gewaltsam vertriebene Frauen konfrontiert sind, sondern auch die Fortschritte hervorheben, die in Bezug auf die Gleichstellung von Menschen auf der Flucht gemacht worden sind. Mit wem könnte man besser über diese Themen sprechen als mit Gillian Triggs, der stellvertretenden Hochkommissarin für Schutz der UN-Flüchtlingsorganisation, die nicht nur eine weibliche Führungspersönlichkeit ist, sondern auch einen Überblick darüber hat, was der Schutz von Frauen im Kontext von Vertreibung bedeutet? 

Gillian Triggs, es freut uns, dass Sie hier sind. Wie geht es Ihnen angesichts der aktuellen Situation in der Ukraine ? 

Zunächst einmal vielen Dank für dieses Interview und für die Gelegenheit, in diesen schwierigen Zeiten mit Ihnen zu sprechen. Die UN-Flüchtlingsorganisation ist weltweit mit etwa 40 Notsituationen konfrontiert, von denen 21 im letzten Jahr eingetreten sind, und eine davon hat vor etwas mehr als einer Woche begonnen. Die Kollegen auf der ganzen Welt arbeiten daran, die inzwischen mehr als 84 Millionen vertriebenen Menschen zu unterstützen – eine Zahl, die von Tag zu Tag weiter steigt, was uns derzeit sehr beansprucht und von uns erfordert, dass wir unsere Aktivtäten weiter ausweiten, um auf die verschiedenen Situationen reagieren zu können. Es ist jedoch sehr wichtig, dass wir uns die Zeit nehmen, über diese Aktivitäten zu sprechen, damit die Schweizer Öffentlichkeit versteht, worum es geht. 

Mit über einer Million Flüchtlingen, die ins Ausland geflohen sind, und über einer Million Binnenvertriebenen droht die Ukraine für Europa zur schlimmsten Flüchtlingskrise des Jahrhunderts zu werden. Viele dieser Flüchtlinge sind Frauen und Kinder. Welchen Hauptrisiken sind sie ausgesetzt und wie reagiert UNHCR darauf ? 

UNHCR ist federführend, wenn es darum geht, Schutz zu bieten und mit den jeweiligen Regierungen zusammenzuarbeiten. Natürlich sind die Regierungen in der Europäischen Union besser in der Lage, ihre eigenen Asylregistrierungssysteme zu verwalten, aber wir stocken natürlich unser Personal auf, um die Länder wie Polen, Rumänien oder Moldawien an vorderster Front zu unterstützen. Der Hochkommissar war in den letzten Tagen in Moldawien und Polen, wo er mit allen führenden europäischen Politikern – Aussenministern, Präsidenten und Premierministern – gesprochen hat. Wir spielen heute die führende Rolle bei der Bereitstellung von Schutz. 

Am meisten gefährdet sind in diesen Situationen natürlich Frauen und Kinder. Sie sind auf der Flucht und sehr gefährdet. Die Reaktion der europäischen Länder, sie mit offenen Armen aufzunehmen, hat uns sehr ermutigt. Leider gibt es immer wieder Menschen, die diese Situation beobachten und versuchen werden, sie auszunutzen und zu missbrauchen. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass die Kinder Nahrung, Wärme und Schutz erhalten und dass auch die alleingelassenen Frauen den nötigen Schutz bekommen. Die ausserordentliche Grosszügigkeit in ganz Europa und natürlich die Befolgung der Richtlinie über den vorübergehenden Schutz, die eine sehr grosszügige Notmassnahme darstellt, haben uns sehr erfreut. 

© Switzerland for UNHCR
© Switzerland for UNHCR
Während die Welt auf die Ukraine blickt, dürfen wir nicht vergessen, dass das Jahr 2021 besonders von humanitären Krisen geprägt war: in Myanmar, in Afghanistan oder in Tigray. Wie hat sich die Situation in diesen Ländern entwickelt? Es besteht die Gefahr, dass diese Situationen, je weiter sie entfernt sind, weniger Aufmerksamkeit erhalten. Wie versucht UNHCR, die Aufmerksamkeit für diese Krisen aufrechtzuerhalten ? 

Nun, das liegt bis zu einem gewissen Grad in der menschlichen Natur. Natürlich konzentriert man sich mehr auf etwas, das näher an der eigenen Heimat liegt und einen direkter betrifft als eine ähnliche Situation in einem anderen Teil der Welt – wir verstehen das. Aber wie Sie schon sagten, waren es im letzten Jahr über eine Million Afghanen, die zur Flucht gezwungen waren, und davor über eine Million Menschen in Myanmar oder in der Sahelzone, wo Millionen von Menschen auf der Flucht sind... Wir haben sehr hart daran gearbeitet, auf allen Ebenen präsent zu sein und die Menschen nicht zurückzulassen, die in Mittelamerika, im Nahen Osten, in Asien oder in Afrika Unterstützung brauchen. 

Als UN-Agentur müssen wir dafür sorgen, dass die Aufmerksamkeit für diese Notsituationen nicht verloren geht, denn auch dort sind die Zahlen und Bedürfnisse immens. Denken Sie an die Demokratische Republik Kongo oder Mosambik, wo riesige Zahlen vorherrschen. Aber ich glaube, es ist auch wichtig, anzuerkennen, dass es normal ist, dass sich die Aufmerksamkeit in diesen Zeiten mehr auf die Ukraine richtet. 

Als UN-Flüchtlingsorganisation sind wir sehr beeindruckt. Europa ist einer unserer grössten Geber, es ist einer unserer zuverlässigsten Partner bei der Neuansiedlung und wird dies auch weiterhin sein. Wir hoffen und erwarten, dass sie ihre Arbeit weltweit fortsetzen werden. Aber jetzt, wo die aktuelle Herausforderung die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine ist, ist es verständlich, dass sich ihr Fokus auf die nächstgelegenen und dringendsten Bedürfnisse verlagert. 

Im Moment liegt der Schwerpunkt auf den Menschen, die aus der Ukraine fliehen müssen. Aber besteht angesichts der Lage in Russland nicht die Gefahr, dass immer mehr Menschen auch aus diesem Land fliehen müssen ? 

Wir sind eine humanitäre Organisation, wir sind unpolitisch, und unser Ziel ist es, alle Menschen zu schützen, die von Zwangsvertreibung betroffen sind. Es gibt und wird viele, Zehntausende von Menschen geben, die nach Russland zurückkehren wollen oder die Schutz brauchen werden. Unsere Aufgabe ist es, alle zu schützen, und wir werden uns dabei auch weiterhin unpolitisch verhalten. Wir wählen nicht zwischen verschiedenen Ländern aus; wir müssen mit allen zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass Menschen, die Schutz oder Asyl benötigen, unterstützt werden. Das ist unsere Aufgabe, und wir werden sie auch weiterhin erfüllen. 

© Switzerland for UNHCR
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In Ihrer Zeit als stellvertretende Hochkommissarin für Schutz haben Sie viele Krisen erlebt. Wie haben sich die Rechte der Frauen in dieser Zeit entwickelt, insbesondere auch durch die Pandemie ? 

Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die Rechte von Frauen und Kindern vor dem COVID erheblich gestärkt worden sind. Es war zum Beispiel fast überall akzeptiert und klar, dass junge Mädchen zur Schule gehen müssen. Die Gleichberechtigung der Frauen wurde deutlich verbessert, sie wurden wirtschaftlich gestärkt und erhielten mehr Raum, um auf politischer Ebene und auf der Ebene der lokalen Gemeinschaften mitzureden und Entscheidungen zu treffen. Echte Fortschritte wurden langsam gemacht – es geht immer langsam – aber es wurden echte Fortschritte gemacht. 

Leider muss ich sagen, dass die Pandemie für Frauen und Kinder wirklich regressiv war. Sie gehören weltweit zu den Menschen, die am stärksten von der Pandemie betroffen sind, aber für gewaltsam vertriebene Menschen ist dies noch schlimmer. Angesichts der Tatsache, dass Mädchen in der ganzen Welt nicht zur Schule gehen konnten, ist es wirklich besorgniserregend, dass in einigen Gebieten, in denen die Kinder jetzt wieder zur Schule gehen, die Jungen zurückkehren konnten, nicht aber die Mädchen. Wir haben schockierende Fälle erlebt, in denen Mädchen verkauft wurden, weil die Familien durch die Pandemie ihre Arbeit verloren und nicht in der Lage waren, sich selbst zu versorgen. Menschen, die vertrieben werden, gehören immer zum informellen Sektor der Wirtschaft und sind unter den ersten, die ihre Arbeit und ihre Wohnung verlieren. Davon betroffen sind vor allem Frauen und Kinder, die zunehmend zu Hause bleiben müssen, um sich um den Haushalt zu kümmern, oder in die Ehe gezwungen werden. 

Wer stellt sich bei einer Pandemie, bei der die Menschen medizinische Versorgung benötigen, an vorderster Linie zur Verfügung, um zu helfen? Das sind die Frauen. Sie sind die Krankenschwestern, die Sanitäter – sie helfen in jeder erdenklichen Hinsicht. Und das ist ein sehr positiver Aspekt, denn wenn Frauen sich so offensichtlich um die Menschen kümmern und ihre Arbeit machen, wird sich das in den Jahren danach auch politisch bemerkbar machen. Meine Hoffnung ist, dass die Rolle der Frauen anerkannt wird. Ausserdem haben wir in einigen Teilen der Welt alternde Bevölkerungen, die von COVID besonders betroffen sind. Frauen, die vertrieben werden, sind oft diejenigen, die in der Dienstleistungsbranche beschäftigt werden, um die zunehmend benötigten Pflegedienste zu erbringen. 

Einerseits gibt es also einen Rückschritt, vor allem im Bereich der Bildung, aber wir sehen auch die positive Rolle von vertriebenen Frauen, die in der Gesundheits- und Pflegebranche tätig sind. Dies zeigt, was Frauen zu tun bereit sind und welche Risiken sie im Zusammenhang mit einer Pandemie auf sich nehmen, und ich hoffe, dass dies in Zukunft anerkannt wird. 

Sie wurden kürzlich mit der Ruth Bader Ginsburg Medal of Honor ausgezeichnet. Welche Botschaft geht von der Hervorhebung der Rolle von weiblichen Führungspersönlichkeiten wie Ihnen an Frauen und Mädchen in der ganzen Welt aus ? 

Ich fühle mich natürlich sehr geehrt, diese Anerkennung im Namen von Ruth Bader Ginsburg zu erhalten – einerseits, weil sie eine internationale Anwältin war, was meinem eigenen Hintergrund entspricht, und andererseits, weil ich ihre Entscheidungen am Obersten Gerichtshof über viele Jahre hinweg verfolgt habe. Ich war immer ein grosser Fan von ihr und hatte vor vielen Jahren auch die Gelegenheit, sie zu treffen. Sie war für alle Menschen weltweit eine Inspiration, daher ist diese Auszeichnung natürlich eine grosse Ehre für mich. 

Ich glaube, es ist etwas dran an dem Spruch "Man kann nicht sein, was man nicht sieht" – das stimmt natürlich nicht ganz, denn sonst hätte die Menschheit keine Fortschritte machen können. Aber dennoch ist es für Frauen eine Inspiration, andere Frauen in Führungspositionen zu sehen – wie Ruth Bader Ginsburg – und auch im Kontext des Systems der Vereinten Nationen. Ich denke, die UNO ist führend darin, mehr und mehr Frauen in Führungspositionen zu bringen, und ich habe die Freude und Ehre, heute als stellvertretende Hochkommissarin zu dienen. 

Ich bin gerade aus Tansania zurückgekommen, einer relativ stabilen Demokratie, die in der Vergangenheit sehr freundlich bei der Aufnahme von Flüchtlingen war. Die Präsidentin dort ist eine Frau, und die Aussenministerin ist auch eine Frau, und das macht einen Unterschied. Andere Frauen in Tansania sagten uns, dass die Tatsache, dass diese Frauen in leitenden Positionen sind, ihre Stellung in der Gesellschaft insgesamt verbessert hat, da sie in der Bürokratie, der Verwaltung und anderen politischen Positionen aufsteigen. Ich denke, dass es sehr wichtig ist, Frauen in Führungspositionen zu haben und dass ihr Beitrag am Internationalen Frauentag gewürdigt wird. 

© Switzerland for UNHCR
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Es gab Berichte über Diskriminierung an den ukrainischen Grenzen, wo Nichteuropäer Schwierigkeiten bei der Einreise hatten. Wie reagiert UNHCR darauf? 

Wir müssen die europäischen Länder wirklich dafür loben, dass sie ihre Grenzen in diesen sehr schwierigen Zeiten geöffnet haben. Über eine Million Menschen konnten mit relativ wenig Bürokratie und Hürden einreisen, und die Menschen haben ihre Häuser für sie geöffnet. Das war wirklich bemerkenswert.  

Allerdings sind uns Berichte bekannt, wonach an einigen ukrainischen Grenzen Menschen aus Afrika und Asien an der Einreise gehindert wurden. Das ist sehr beunruhigend. Es mag technische Gründe dafür geben, aber ich befürchte, dass einige aus rein rassistischen Gründen zurückgewiesen werden – ich habe einige sehr überzeugende Berichte von Menschen gehört, die davon betroffen waren, und der Hochkommissar persönlich spricht dieses Problem jetzt an.  

Ich denke, es besteht kein Zweifel daran, dass die Länder selbst diese Reaktion völlig verwerflich finden und versuchen, einem bestimmten Grenzbeamten, der eine bestimmte Haltung einnimmt, die als rassistisch angesehen werden könnte, die Botschaft zu übermitteln. So etwas kommt vor, und wir arbeiten mit den Regierungen zusammen, um sicherzustellen, dass es keine Diskriminierung an der Grenze gibt und dass jeder diesen ansonsten äusserst grosszügig gewährten Schutz erhält.  

Welchen Beitrag kann die Schweizer Bevölkerung zur Lösung von Vertreibungsproblemen und der besonders schwierigen Situation von Frauen und Mädchen leisten, die zur Flucht gezwungen sind ? 

Die Schweiz ist eine der grössten Unterstützerinnen der Arbeit der UN-Flüchtlingsorganisation – hier in Genf, aber auf der ganzen Welt ist die Schweiz immer sehr schnell dabei, zur Umsiedlung einiger der verletzlichsten Menschen beizutragen, und das ist wirklich sehr bemerkenswert – sowohl heute als auch in der Vergangenheit. 

Anlässlich des Internationalen Frauentags ist es gut, ins Bewusstsein zu rufen, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen, die unter Zwangsvertreibung leiden, Frauen und Kinder sind und bleiben werden, was wir derzeit in der Ukraine am deutlichsten sehen. Auch in Afghanistan, wo es 3,5 Millionen Binnenvertriebene gibt und wo UNHCR vor Ort Hilfe leistet, ist die Situation nicht so sichtbar wie bei den Menschen, die Afghanistan verlassen. Aber die Lage der Menschen, die innerhalb des Landes fliehen mussten, ist genauso schwierig, und etwa 80 % der Vertriebenen sind Frauen und Kinder.  

Was kann die Schweiz tun? Ich denke, dieses Interview ist ein Teil der Antwort: Es ist wichtig, dass die Schweizer Bevölkerung auf der Grundlage genauer Daten versteht, was die Fakten sind. Ich denke, es besteht kein Zweifel daran, dass die Schweizer Bevölkerung die Politik ihrer Regierung unterstützt, aber die Befürwortung und die richtige Darstellung der Fakten und Geschichten ist eine wichtige erste Aufgabe. Das wiederum wird dafür sorgen, dass die Schweizer Bevölkerung hinter der Politik der Regierung steht und ihre Spenden erhöht, denn offen gesagt, macht Geld einen grossen Unterschied.  

Der grösste Teil unserer Hilfe in Afghanistan und mit ziemlicher Sicherheit auch in der Ukraine besteht aus Bargeldhilfe. Natürlich stellen wir Unterkünfte, Wasser, Hygienesets, Beratung und Schutz für Frauen und Kinder, für Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen bereit – aber all das hängt leider vom Geld ab. Ich glaube, dass genaue Fakten und detaillierte Schilderungen dafür sorgen, dass die Schweizer Bevölkerung die Realitäten versteht, und dass vertrauenswürdige Medien dafür sorgen, dass die Fakten korrekt wiedergegeben werden. Wir können unsere Arbeit nicht ohne finanzielle Mittel machen – wir brauchen Menschen, wir brauchen Freiwillige, wir brauchen staatliche Unterstützung, aber wir brauchen auch Geld. Ohne Geld sind Bildung, Zugang zu Gesundheit und Integration nicht möglich.